Die Kunst zur Geschichte

„Sex, Drugs and
Rock 'n' Roll“

Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll

Die Geschichte von

Jörg W.

Wenn ich ins Bad will und da hat jemand das Licht brennen lassen, denke ich automatisch: ‚Ey, Jörg!‘“, erzählt Thomas „Golem“ Golemiewski und lächelt matt darüber, dass er seinem alten Freund noch immer eine solche Schludrigkeit unterstellt. Schließlich kann Jörg Wettstädt es nicht gewesen sein. Denn der langjährige Hinz&Künztler ist tot. 

Draußen, vor dem Hauseingang des Hinz&Kunzt-Hauses, wo er zuletzt in einer Wohngemeinschaft lebte, ist er zusammengebrochen und verstorben. Auf dem Boden sitzend, angelehnt an die Hauswand, gestützt und im Arm von Marcel Stein. Noch bevor der Notarzt da war, hörte er auf zu atmen, erzählt der Vertriebskollege, der lange mit Jörg zusammengearbeitet hat und zufällig vor Ort war. 

Seit Anfang der 2000er-Jahre war Jörg „Hinz&Künztler mit Leib und Seele“, sagt Sozialarbeiterin Isabel Kohler. Als Hausmeister und Fahrer fing er beim Straßenmagazin an, später wechselte der gelernte Feinmechaniker in das Hinz&Kunzt-Vertriebsteam. Zuletzt hat er selbst das Straßenmagazin verkauft, an seinem Stammplatz bei Rewe in der Nähe des U-Bahnhofs Berne. Mit seiner Gesundheit ging es da schon stetig bergab, der starke Alkoholkonsum hinterließ deutliche Spuren. „Er hat sich bewusst für dieses Leben entschieden“, sagt Isabel Kohler. Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll – das sei sein Lebensmotto gewesen.

„Echt komisch, dass er weg ist“, sagt Golem, der jahrelang mit Jörg zusammengewohnt hat, zuletzt in der WG im Hinz&Kunzt-Haus. Kennengelernt haben sich die beiden Anfang der 1990er- Jahre. Damals führte Golem noch seinen Croqueladen „Crock ’n’ Roll“. Jörg, der in der Nähe wohnte, kam regelmäßig nach seinem Karatetraining vorbei und trank sein After-Sport-Bier. „Jörg hat schon immer gerne einen getrunken“, erzählt Golem, „und wir haben lustige Feiern gefeiert.“ Aber damals sei Jörg noch topfit gewesen, in seiner Jugend habe er sogar an Turnieren teilgenommen. Einmal wagte es Golem, zum Training mitzugehen. „Ich hab gerade mal das Aufwärmtraining durchgehalten“, erinnert er sich und lacht. Deshalb wunderte sich Golem auch kein bisschen, als Jörg 2006 eine Hinz&Kunzt-Fußballmannschaft mitgründete und sogar den Trainer gab. Sein Coaching war freundschaftlich und humorvoll: „Hinten Beton anrühren und vorne hilft der liebe Gott“, lautete der Plan, mit dem die „KunztKicker“ schon ein Jahr später bei der Deutschen Meisterschaft im Straßenfußball den dritten Platz belegten und im Vorprogramm des Hallenturniers „Salzbrenner Cup“ aufliefen. 

In der Fußballtruppe war Golem nicht dabei. Aber er teilte mit Jörg dessen zweite Leidenschaft: die Musik. Schon als Kind interessierte sich Jörg für Musik, als Schüler baute er sich sogar eine Gitarre. Mit Golem traf er sich regelmäßig zum Jammen. Der war gut am Bass und hatte schon einige Banderfahrungen. Als Golem schließlich wegen Alkohol- und Drogenproblemen erst seinen Croqueladen und dann seine Wohnung verlor, brachte Jörg seinen Kumpel mit zu Hinz&Kunzt. Die Idee: Warum nun nicht mit weiteren Kolleg:innen und Verkäufer:innen eine Band gründen? „Restakzent“ war geboren. Die Rocktruppe trat 2009 sogar bei „Kick it like Beatles“ auf, einer Förderveranstaltung für Nachwuchstalente. Tage vor dem Gig war Jörg so aufgeregt, dass er plötzlich alle Texte vergaß: „Ich wollte im Kopf unsere Stücke durchgehen – aber da war nichts mehr. Keine einzige Zeile“, erzählte er damals. 

Zu dieser Zeit wohnte Jörg in einem kleinen Häuschen in Berne. Die gleich nebenan lebenden Eigentümer waren auf Hinz&Kunzt zugekommen mit dem Angebot, ihr Häusschen günstig an Hinz&Künztler zu vermieten. „Die weltklasse besten Vermieter“, schwärmte Jörg, der das Häuschen zunächst mit seinem Bruder, dann bis November 2020 zusammen mit Golem bewohnte. Der Keller wurde kurzerhand zum Probenraum umfunktioniert. „Jörg war immer dabei“, sagt Golem, auch als er gesundheitlich schon stark angeschlagen war. Er ging am Rollator und musste Herzmedikamente nehmen. „Wie oft ich schon in Berne den Krankenwagen geholt habe!“, sagt Golem und schüttelt den Kopf. „Jörg ist immer wieder einfach umgekippt. Von jetzt auf gleich. Vielleicht, weil er seine Tabletten nicht genommen hatte. Oder weil er den Jägermeister zu den Tabletten nicht weggelassen hat.“

Der Alkohol war es auch, der Jörg schließlich seinen Job im Hinz&Kunzt- Vertrieb kostete. Immer öfter unterliefen ihm schwere Pannen, die dem Team zuletzt keine Wahl ließen. „Er hat echt viele Chancen von Hinz&Kunzt bekommen“, erinnert sich Golem. „Auch wir haben viel über Alkohol gesprochen. Ich bin ja selbst Alkoholiker. Aber so war Jörg: Entzug und Therapie waren nichts für ihn. Und wenn Jörg nicht wollte, dann war das eben so.“

So sieht es auch Sozialarbeiterin Isabel Kohler: „Wenn jemand von sich aus etwas nicht verändern will, hat man keine Chance. Das muss man akzeptieren.“ Ohne Groll habe man das Anstellungsverhältnis schließlich aufgelöst. Ein Verlust, denn „die Verkäufer waren Jörg richtig wichtig“, erinnert sich Isabel Kohler. „Er war immer auf Augenhöhe, hat ihnen Tipps gegeben, sich gekümmert und etwas für sie auf die Beine gestellt.“ Nun fing Jörg, der aufgrund der schweren Suchterkrankung keine Chance auf einen anderen Job gehabt hätte, selbst als Hinz&Kunzt-Verkäufer an. Ganz selbstverständlich.

„Immerhin war Jörg nicht allein, als er gestorben ist“, sagt Vertriebskollege Marcel Stein. Bei der Gedenkfeier ließ es sich Golem nicht nehmen, einen Abschiedssong für den alten Freund zu klampfen. Auch einen Jägermeister ließ er für Jörg da. Soll ihm ja an nichts fehlen, da oben. Wie bei allen verstorbenen Hinz&Künztler:innen erinnert nun eine Plakette am Hinz&Kunzt- Baum auf dem Öjendorfer Friedhof an den Freund und Kollegen. Für Marcel Stein ist er ohnehin noch da: „Solange man an einen Menschen denkt, so lange lebt er auch.“

Noch mehr von Jörg:

Credits:
Text: Annette Woywode
Foto: Mauricio Bustamante

30 Kunstwerke, geschaffen von 30 Hinz&Künztlerin:innen

Für weitere Informationen klicke einfach auf eines der folgenden Kunstwerke.

Am 22. November wurde ein Teil der Homeless Gallery zusammen mit zahlreichen Kunstwerken und Auktionslosen, die namhafte Künstler*innen gespendet hatten, versteigert. Mehr als 40.000 Euro kamen an diesem Abend für das Straßenmagazin Hinz&Kunzt zusammen.

 

Die Werke der Homeless Gallery, die im Rahmen der Auktion aufgrund der Vielzahl nicht unter den Hammer kommen konnten, können ab sofort über einen Auktions-Nachverkauf erworben werden.

Jedes Bild aus der Homeless Gallery ist ein Unikat, zu dem es ein Echtheitszertifikat gibt. Alle Erlöse des Nachverkaufs fließen vollständig an Hinz&Kunzt, die gemeinsam mit einer Hamburger Stiftung neuen Wohnraum für Obdachlose schaffen.

„Wir freuen uns sehr, über das große Interesse an der Homeless Gallery und den Lebensgeschichten ihrer Künstlerinnen und Künstler”, sagt Hinz&Kunzt Geschäftsführer Jörn Sturm. „Es zeigt, dass wir mit der Ausstellung einen Nerv getroffen haben und dass die Menschen unseren Einsatz für Obdach- und Wohnungslose schätzen. Natürlich sind wir sehr glücklich über den Erlös, den die Versteigerung eingebracht hat, und möchten uns herzlich bei allen Besucher*innen, Mitbietenden und Käufer*innen bedanken.”

Auch eine kleine Auswahl an weiteren Kunstwerken kann noch erworben werden. Der Nachverkauf-Katalog ist hier zu finden: