Die Kunst zur Geschichte
„Eine feste Bank“
Die Geschichte von
Marc H.
Der Ausblick ist noch derselbe, das Blau der Alster, die Segelboote auf dem Wasser, und doch ist nichts mehr wie früher.
Früher saßen sie hier und haben gelacht, wenn eines der Boote schon beim Ablegen kenterte. Marc und Gerrit und neben ihnen Nic, der Hund. Manchmal wechselten sie an einem Abend nur 30 Worte und hatten trotzdem miteinander gesprochen. Sie lästerten über die Segler:innen und stritten über Fußball: St. Pauli oder Schalke.
Früher, das war, als sie beide Mitte 20 waren und obdachlos. Als Gerrit oft nur wenige Schritte von der Bank entfernt unter der Kennedybrücke schlief. „Unseren Sprungturm“ nennt er sie, weil sie sich im Sommer manchmal von dort ins Wasser stürzten. Vielleicht sechs, sieben Meter tief, schätzt er und zuckt dabei mit den Schultern.
Heute steht dort nicht mal mehr die Bank, auf der sie immer saßen. Gerrit hockt allein im Gras, im dunklen St.-Pauli-Shirt, seinen Hund neben sich. Ein Husky, so wie Nic einer war.
Gerrit ist mittlerweile 46 Jahre und wohnt in Eimsbüttel. Dass er Marc in den vergangenen zehn Jahren nur noch selten gesehen hat, ist eigentlich ein gutes Zeichen, findet er. Weil Marc „wieder in ein neues Leben gefunden hatte“. Das weiß Gerrit, weil es ihm selbst so ging: Wenn sich eine neue Tür öffnet, schließen sich eben auch ein paar alte.
Vor wenigen Tagen ist Marc beerdigt worden. Es ist ein anonymes Grab auf dem Friedhof in Rahlstedt, darauf weder sein Name noch das Geburtsjahr 1976. Niemand erkennt hier, dass Marc 44 Jahre alt geworden ist. Natürlich ahnt so auch niemand von den Brüchen, die diese Jahre in verschiedene Welten trennten: seine Kindheit und Jugend in Nordrhein-Westfalen, seine Flucht auf die Straßen Hamburgs, auf denen er sich mehr als ein Jahrzehnt versteckte und obdachlos blieb. In seinen letzten zehn Jahren führte Marc dann das, was Gerrit ein neues Leben nennt: mit eigener Wohnung, festem Job, Nachbar:innen und Kolleg:innen.
Von ihrem Platz an der Alster sind es laut Google Maps 18 Minuten Fußweg bis zum Gebäude von Hinz&Kunzt, in Gerrits Tempo schafft man es in zehn. Das war der Weg, den sie beinahe jeden Abend zusammen gegangen sind: 1,9 Kilometer, möglichst nicht am Hauptbahnhof entlang. Marc wollte nicht, dass mal ein Polizist zufällig fragte, wer er ist und woher er kommt.
Als junger Mann war er von der Marine der Bundeswehr desertiert. Einst wollte er Zeitsoldat werden, er mochte die See und hatte für seinen Einsatz bei der Oder-Flut 1997 sogar einen Orden bekommen. Doch kurz darauf muss irgendetwas vorgefallen sein, vermutet Gerrit – was genau, hat Marc allerdings nie erzählt.
Seitdem war Marc obdachlos, hatte keinen Kontakt zu seiner Familie, arbeitete nicht im gelernten Beruf als Maurer. Erkannt zu werden hätte für ihn möglicherweise eine Haftstrafe wegen Fahnenflucht bedeutet. Mit 25 Jahren stieß er zu Hinz&Kunzt, wurde Verkäufer und arbeitete später am Kaffeetresen.
Gerrit steht nun im Hinz&Kunzt-Hof und raucht. „Das war der Kleine, der Süße“, sagt er gerade über Marc, der zwar nicht besonders groß, aber doch recht stämmig gewesen war. Gerrit scherzt, dass sie ihm mal ein Tütü schenken wollten: dem Mann, der auch auf Mittelalterfeste ging, Rock und Metal hörte, seine Ohrläppchen mit gewaltigen Tunnels dehnte.
Neben Gerrit steht Sigi, der im Vertrieb von Hinz&Kunzt arbeitet und bei dem Marc mal eine Zeit lang übernachtet hatte. Was für ein Typ der gewesen sei? „Kumpel, durch und durch“, sagt Sigi und erntet allgemeines Nicken.
An der Wand lehnt Verkäufer Fred. Ihm hatte Marc zuerst anvertraut, wieso Hamburg zu seinem Versteck geworden war. Fred brachte ihn zu Hinz&Kunzt und schickte ihn ins Kino, damit er mal etwas anderes sah. Einen Winter lebten sie nebeneinander im Winternotprogramm, die Türen immer offen für den anderen, weil sie sich vertrauten. „Für seine Freunde hat er sich immer gerade gemacht“, sagt Fred.
Er und Marc und Gerrit, eine Zeit lang sahen sie sich jeden Tag.
Irgendwann erfuhr Marc, dass er nicht für eine mögliche Fahnenflucht gesucht wurde, dass er die Angst vor einer Haftstrafe ablegen konnte. Tatsächlich ging dann alles ganz schnell: 2011 vermittelte Hinz&Kunzt Marc eine Wohnung, kurz darauf fand er über eine Zeitarbeitsfirma eine Stelle im Warenlager eines Modegeschäfts. Weil die so zufrieden mit ihm waren, stellten sie ihn schon bald fest an. Morgens fuhr er mit Kolleg:innen gemeinsam zur Arbeit, abends kehrte er in seine Wohnung in Rahlstedt zurück. Er bekam die Chance auf ein neues Leben, und er nutzte sie.
Die Straße, in der er wohnte, hatte nur noch wenig zu tun mit der Großstadt, in der er sich einst zu verstecken begann. Mitten in Hamburg, sagen Fred und Gerrit, war es für ihn einfach, unauffällig zu bleiben. Aber hier am Stadtrand, wo sich die Menschen auf der Straße mit Namen grüßen, man Autos und Blumen der Nachbarschaft kennt?
Diese Nachbarschaft mochte Marc. „Den Netten“ nannten sie ihn. Seine Vermieter sitzen einige Wochen nach seinem Tod in ihrem Garten und erzählen von Marc als besonders angenehmen und liebenswerten Menschen. Oft fragten sie ihn, wenn sie neben dem Blumenbeet standen und er zu seiner Wohnung lief, ob er nicht mal auf einen Kaffee vorbeikommen wolle? Freundlich habe er immer abgelehnt. Sie dachten, er wollte sich nicht aufdrängen.
Weil Marc am ersten Tag nach seinem Urlaub nicht auf der Arbeit erschienen war, fuhren Kolleg:innen zu ihm nach Hause. Er hatte schon seit längerer Zeit nichts in ihre gemeinsame Whatsapp-Gruppe geschrieben, was ungewöhnlich für ihn war. Sie klingelten an seiner Tür, und als niemand öffnete, kamen sie am nächsten Tag noch mal. Sie riefen die Vermieter, die riefen die Polizei. Am 27. April fand man Marc in seiner Wohnung. Woran er gestorben ist – unklar.
Marcs Leben war lange anonym, sein Abschied war es nicht: Seine Kolleg:innen organisierten eine Trauerfeier, mit Blumen Kerzen und einer Rede. Rund 20 Menschen waren dort, aus seinem früheren Leben und dem neuen. Ein Teil seiner Familie, seine Mutter und seine zwei Brüder. Fred war es, der Marcs Urne bis ans Grab trug.
Gerrit konnte an diesem Tag nicht dabei sein. Also zündete er selbst eine Kerze an; dort, wo damals ihre Bank gestanden hatte. Er machte ein Foto und schickte es weiter: an all die Menschen, von denen er wusste, dass sie Marc gekannt hatten.
Auf dem Bild sieht man hinter ausgetretenem Gras die Alster. Von links drängt ein Segelboot ins Bild. Darauf habe er extra gewartet, bevor er ausgelöst hat, sagt Gerrit. Auf den Moment, als eines der Segelboote ablegte, nicht kenterte, sondern sachte auf die Alster glitt.
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Credits:
Text: Anna-Elisa Jakob