Die Kunst zur Geschichte

„Mit dem Fahrstuhl
in den Himmel“

Mit dem Fahrstuhl gen Himmel

Die Geschichte von

Chris S.

Ich mache Öffentlichkeitsarbeit bei Hinz&Kunzt, bin Festangestellter und seit sieben Jahren darf ich Stadtrundgänge machen. Das heißt, ich zeige die andere Seite von Hamburg.

Ich mache keinen Touristenführer in dem Sinne, sondern ich zeige soziale Brennpunkte von Hamburg, wo sich halt mehr oder weniger Armut aufhält. Da geht es um die Obdachlosigkeit, Wohnungslosigkeit, da gehe ich zu mehreren Einrichtungen. Gehe aber in keine Einrichtung rein, außer Hinz&Kunzt selber. Klar, für die Firma arbeite ich. Kann ich auch machen, aber wir machen jetzt keinen Zoo-Effekt. Und dann erzähle ich der Runde ungefähr eine gute Stunde, von Hinz&Kunzt, von meinem Leben und wie ich zu Hinz&Kunzt gekommen bin. Ich habe mehrere Jahre auf der Straße gelebt, man sagt Platte gemacht.                      

Ich komme ursprünglich aus dem Ruhrpott, bin also auf schwarzer Kohle geboren und habe eine Heimkarriere hinter mir. Wurde mit 1,5 Jahren meinen Eltern per Gericht weggenommen. Da durfte ich unter Nonnen groß werden, streng katholisch. Das heißt, ich gehöre zu den Missbrauchsopfern der katholischen Kirche. In diese Richtung werde ich aber keine Fragen beantworten. Dann habe ich mit 17 das Heim verlassen, weil ich meine Lehre als Dachdecker abgebrochen habe. Habe die praktische Prüfung gemacht, schriftliche aber nicht. Von den Nonnen habe ich damals keinen Rückhalt bekommen, die haben mir nicht erklärt, dass es wichtig ist, eine abgeschlossene Lehre zu haben. Für die war es wichtig, dass ich 14 mal am Tag gebetet habe.

Dann habe ich das Geld bekommen, das all die Jahre für mich angespart wurde. Damit bin ich auf die Straße und was habe ich natürlich damit gemacht? Mir ein billiges Pensionszimmer genommen, den Rest verjubelt. Juhu Freiheit, ich bin die Nonnen los. So, aber irgendwann wurde mein Geld immer weniger. Dann bin ich zu Freunden und Bekannten und habe mir dort eine Lügenbrücke aufgebaut. Habe denen erzählt, dass ich keine Wohnung kriege etc. Ging, wie gesagt, dann auch eine Zeitlang gut, aber irgendwann fragten mich immer mehr nach: “Chris, was ist jetzt mit deiner Wohnung?“ Da habe ich mich geschämt, dann bin ich auf die Straße durchgehend sieben Jahre lang. 

In den sieben Jahren habe ich es geschafft, mich zum Voll-Alkoholiker zu entwickeln. Das heißt, ich habe ganz normal angefangen mit ein, zwei Bierchen am Tag und dann nach sieben Jahren bzw. nach ungefähr zweieinhalb Jahren war ich auf drei Flaschen Wodka am Tag. Nach zweieinhalb Jahren. Ich habe mir mein Leben schön gesoffen. Im übertriebenen Sinne. 

Die ersten zweieinhalb Jahre bin ich noch arbeiten gegangen, obwohl ich draußen gelebt habe. Und dann konnte ich irgendwann nicht mehr arbeiten. Der Alkohol war wichtiger, der Teufel hatte mich im Griff. Und dann bin ich durch ganz Deutschland gezogen, habe mich mit Betteln über Wasser gehalten und schnorren gegangen. Als ich dann ‘95 bei Hinz&Kunzt angefangen habe, habe ich gesehen, dass durch den Verkauf von Zeitschriften man ganz anders wahrgenommen wird von den Mitmenschen: “Guck mal, der will ja doch arbeiten.“ Für einen selber ist das auch ein ganz anderes Gefühl, wenn man dir etwas geben kann für das Geld als zu sagen: “Gib mir mal”.

Ohne Hinz&Kunzt wäre ich schon gar nicht mehr auf der Erde. Durch das Verkaufen habe ich es geschafft, dass ich von drei Flaschen Wodka ganz weg bin. Ich trinke noch meine Biere, aber nicht jeden Tag und ich kriege meinen Job hin. Ich liebe meinen Job.                              

Wenn du obdachlos bist, läufst wie Don Quichotte gegen Windmühlen. Am Anfang kriegst du noch etwas auf die Reihe, auf deine Papiere immer aufzupassen, dich zu bewerben wegen einer Wohnung etc. und kriegst immer Absagen. Du gibst irgendwann auf. Du hast keine Familie, die dir Rückhalt gibt. Du bist einsam, auch wenn du Menschen um dich hast. Du bist innerlich einsam.  

In jedem Rundgang sind zwar die gleichen Fragen, aber jeder Rundgang ist anders. Ich sage immer: “In einer Art musst du in meinem Job so ein bisschen Psychiater sein.” Ja, du kannst mit Polizisten nicht so reden wie mit einem der ein St. Pauli Fan ist, als Beispiel. Das ist für mich Therapie. Andere gehen zum Psychiater, für mich sind es die Gäste, die zu mir kommen. Ich habe mit Gruppen von FSJler angefangen, aber genauso gut habe ich Polizeianwerber wie beispielsweise Auszubildende, in Beiersdorf, Landfrauen aus allen Schichten.                         

Meine wichtigste Botschaft ist, dass Geld beruhigt, aber dir keine Gesundheit gibt, und auch keine Freunde. Und ich rede nicht von Freunden von Facebook und Instagram. Live. Und wenn es 3-4 sind, die dann die Freundschaft pflegen und Spaß am Leben haben. Ihr wisst selbst, scheiß Zeit seit zwei, drei Jahren Corona etc. jetzt Putin. Aber ich stehe jeden Morgen auf und gehe positiv in den Tag hinein. Und wenn ich merke, dass ich mich schon selber langsam zum Spießer entwickle, dann muss ich nur einen Rundgang machen. Dann sehe ich wieder das Elend und weiß wieder meinen Wert zu schätzen: dass ich meine eigene Wohnung habe, dass ich die selber bezahle, dass ich die selber putze. Was für viele Leute sich schon aufregen, weil sie nur fünf Minuten auf eine Bahn warten. Was eigentlich Schwachsinn ist. Oder dass das Badezimmer zu Hause besetzt ist. Das sind doch keine Probleme. Probleme sind, wenn du draußen deinen Arsch hast. Wenn du süchtig bist, Depressionen hast, Erkrankungen… Das sind Probleme. Deswegen genießt jede Sekunde, die ihr lebt. 

Der eine sagt: “Es gibt den Himmel”, der Andere sagt: “Es gibt die Hölle.“ Ich glaube an gar nichts. Ich bin der Meinung, wenn Schluss ist, ist Schluss. Ich habe meine Frau an Krebs verloren…damals hat sie sich jahrelang gequält. Und da möchte ich wissen, wie das so ist, in den Himmel zu fahren. Ich habe von meiner Ute mitgekriegt, kurz bevor sie eingeschlafen ist, drei Tage vorher sagte sie: „Mein Schatz, das war ein schönes Licht, eben im Tunnel“. Da dachte ich, es gibt ihn vielleicht doch den Fahrstuhl in den Himmel. Also ich stelle mir das so vor, ich stehe irgendwo am Fahrstuhl und anstatt das da der 3.-6. Stopp ist, fährt er 50 km nach oben und irgendwann macht die Türe einer auf. Der liebe Gott und Engel stehen da vor dir und du hast keine Sorgen mehr im Leben. Bist nur noch auf Wolke 7 und schwebst vor dir her. Dort stelle ich mir so den Tod vor. Oder andersherum. Du fährst direkt in die Hölle.

Noch mehr von Chris:

30 Kunstwerke, geschaffen von 30 Hinz&Künztlerin:innen

Für weitere Informationen klicke einfach auf eines der folgenden Kunstwerke.

Am 22. November wurde ein Teil der Homeless Gallery zusammen mit zahlreichen Kunstwerken und Auktionslosen, die namhafte Künstler*innen gespendet hatten, versteigert. Mehr als 40.000 Euro kamen an diesem Abend für das Straßenmagazin Hinz&Kunzt zusammen.

 

Die Werke der Homeless Gallery, die im Rahmen der Auktion aufgrund der Vielzahl nicht unter den Hammer kommen konnten, können ab sofort über einen Auktions-Nachverkauf erworben werden.

Jedes Bild aus der Homeless Gallery ist ein Unikat, zu dem es ein Echtheitszertifikat gibt. Alle Erlöse des Nachverkaufs fließen vollständig an Hinz&Kunzt, die gemeinsam mit einer Hamburger Stiftung neuen Wohnraum für Obdachlose schaffen.

„Wir freuen uns sehr, über das große Interesse an der Homeless Gallery und den Lebensgeschichten ihrer Künstlerinnen und Künstler”, sagt Hinz&Kunzt Geschäftsführer Jörn Sturm. „Es zeigt, dass wir mit der Ausstellung einen Nerv getroffen haben und dass die Menschen unseren Einsatz für Obdach- und Wohnungslose schätzen. Natürlich sind wir sehr glücklich über den Erlös, den die Versteigerung eingebracht hat, und möchten uns herzlich bei allen Besucher*innen, Mitbietenden und Käufer*innen bedanken.”

Auch eine kleine Auswahl an weiteren Kunstwerken kann noch erworben werden. Der Nachverkauf-Katalog ist hier zu finden: